Produktvision: Praxistipps von Dominique Winter (OBI next)
Dominique Winter ist Product Development Coach bei OBI next. In seiner Rolle unterstützt er die Baumarktkette darin, bessere Produkte zu entwickeln. Auch in seiner Tätigkeit als freiberuflicher Speaker und Trainer liegt sein Fokus auf erlebnisorientierter Produktentwicklung und User Experience. Im Interview spricht Winter über die Bedeutung der Produktvision, wie man ein gemeinsames Zielbild entwickelt und was Craft-Bier mit einer guten Produktvision gemeinsam hat.
Hallo Dominique. Bevor wir ins Thema einsteigen: Du bist Product Development Coach bei OBI next. Was genau macht deine Rolle aus?
Meine Hauptaufgabe ist es, die Organisation dazu zu befähigen, besser bessere Produkte zu entwickeln. Ich begleite Product Owner (PO), Produktmanager und Entwicklungsteams und helfe dabei, Produktentwicklungskompetenzen aufzubauen.
Das bedeutet, dass ich POs, Produktmanager und Projektmanager coache, Workshops und Trainings zu Themen wie beispielsweise Produktvision, Product Roadmaps, Teambuilding oder Stakeholder-Management durchführe und die Teams generell in Fragen der Produktentwicklung unterstütze.
Ich bin jetzt seit gut 5 Jahren in dieser Rolle bei OBI next. Vorher war ich viele Jahre Product Owner in unterschiedlichen Unternehmen. Neben diesen Tätigkeiten habe ich berufsbegleitend einen Master in Organisationsentwicklung gemacht. Ich habe immer in Organisationen gearbeitet, die Produkte, Services oder Dienstleistungen entwickelt haben. Mein Schwerpunkt als Organisationsentwickler liegt darin, Rahmenbedingungen zu schaffen und die Organisation zu befähigen, bessere Produkte zu entwickeln
Du setzt dich zudem als Wissenschaftler, Coach und Speaker intensiv mit den Themen nutzerzentrierte Produktentwicklung und User Experience auseinander. Was fasziniert dich daran?
Ich bin da so ein bisschen reingerutscht (lacht). Zunächst habe ich Medieninformatik studiert und wollte ursprünglich Computerspiele entwickeln. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass die Computerspiel-Branche nichts für mich ist. Ich fand es aber trotzdem spannend zu ergründen, wie Menschen ticken, wofür sie sich begeistern und wie man nutzerfreundliche Erlebnisse gestaltet. Die Themen „Erlebnisse gestalten“ und „Benutzbarkeit“ haben mich dabei besonders fasziniert und so bin ich dann zur User Experience (UX) gekommen.
Meiner Meinung nach ist die User Experience der zentrale Fokus in der Produktgestaltung.
Ich habe dann lange als Produktmanager mit dem Schwerpunkt UX gearbeitet und mich früh mit dem Thema Organisationsentwicklung beschäftigt und versucht, die UX-Aspekte dort stärker einzubringen. In vielen Unternehmen haben UX-Experten eher eine beratende Funktion: Produkt XY sollte so und so gestaltet werden. Die Entscheidungen treffen dann aber andere. Meiner Meinung nach ist die User Experience aber der zentrale Fokus in der Produktgestaltung. Das war mir als Produktmanager und Product Owner später dann auch immer superwichtig. Ich sag immer etwas salopp: „Ich bin ein UXler, gefangen im Körper eines PO.“
Diese Erkenntnisse versuche ich auch an andere Organisationen und Teams weiterzugeben. Neben meinem Job bei OBI next bin ich selbstständiger Product Manager und Coach bei den Produktwerkern. Wir beraten Organisationen als Mentoren im Bereich Produktentwicklung und UX. Zudem veröffentlichen wir Content in Form von Blog-Beiträgen oder Podcasts und veranstalten Live-Events.
Eines deiner zentralen Themen ist die Produktvision. Warum ist sie deiner Meinung nach so wichtig für die Produktentwicklung?
Organisationen sind nicht dafür da, Geld zu verdienen oder zu vermehren, sondern um der Gesellschaft einen Mehrwert zu liefern. Geld und Ressourcen sind ein Mittel, um dies nachhaltig zu erreichen. Wenn aber Geld nicht der Zweck ist, brauche ich etwas anderes, das Menschen zusammenbringt und auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet.
Im Unternehmen arbeiten wir mit vielen unterschiedlichen Individuen zusammen. Menschen, die unterschiedliche Vorstellungen, Werte, Herkünfte und Hintergründe haben. Um den zentralen Sinn der Organisation zu erfüllen, müssen all diese Menschen an einem Strang ziehen. Eine Vision ist deswegen wichtig, damit alle eine gemeinsame Richtung einschlagen.
Das gilt auch für die Produktvision. Eine Produktvision ist in meiner Definition ein geteiltes mentales Modell, ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten darüber, wo wir mit dem Produkt hinwollen.
Was macht eine gute Vision aus?
Eine gute Produktvision ist auf den Mehrwert fokussiert. Sie vermittelt, warum die Welt unser Produkt braucht. Es muss einen zentralen Grund für das Produkt geben, den wir in der Vision vermitteln.
Eine gute Vision ist aber auch motivierend. Die Leute, die daran arbeiten, müssen sich für die Idee begeistern können. Sie sollte die wichtigsten Informationen zum Produkt enthalten: Für wen machen wir das? Welches Problem lösen wir? Was sind die Alleinstellungsmerkmale und unsere Unterscheidung zum Wettbewerb?
Die Produktvision muss in der Organisation abgestimmt und vereinbart sein.
Und ganz wichtig: Sie muss in der Organisation abgestimmt und vereinbart sein. Alle verstehen das Gleiche darunter. Sie ist möglichst konkret und jeder versteht, was gemeint ist.
Ich versuche, dies an einem fiktiven Beispiel zu illustrieren: „Wir verbinden hungrige Menschen mit den besten Restaurants der Stadt“. Das könnte eine Produktvision sein, beispielsweise von einer App. Allen, die daran arbeiten, muss klar sein: Was heißt „verbinden“? Listen wir nur die Adressen und Kontaktdaten auf? Bieten wir auch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme? Oder gehen wir noch einen Schritt weiter? Oder: Was verstehen wir unter Restaurant? Gelten hier auch Imbissbuden oder Take-Away-Läden? Und was sind die „besten Restaurants“? Was zählt hier? Sterne? Nutzerbewertungen bei Google?
Wir sehen, dass der Interpretationsspielraum in dem Vision Statement reduziert werden muss. Jeder in der Organisation sollte das Gleiche unter „bestes Restaurant“, „verbinden“ und der generellen Aussage verstehen. Das meine ich mit „geteiltes mentales Modell“.
Dann eignet sich die Vision in den Entwicklungsteams auch super, um zu priorisieren. Das Feature zahlt nicht auf die Vision ein? Dann kommt es auch nicht ins Product Backlog.
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Zur InnovationsberatungUnd wie entwickelt man eine gute Produktvision?
Es gibt im Grunde zwei Wege: Entweder du lässt alle, die an der Produktentwicklung partizipieren, auch an der Erstellung der Produktvision teilhaben. Es kann sein, dass sich dann am Ende alle schneller darauf einigen können. Wenn jeder beteiligt ist, führt das aber auch zu einer „Verwässerung“: Die Vision ist dann so abgeschliffen und flauschig, dass sie wenig aussagekräftig ist. Ich vergleich das gerne mit dem „Fernsehbier“. Damit meine ich die bekannten großen Marken, die im Fernsehen beworben werden. Die sind meist süffig und schmecken den meisten Biertrinkern. Was ihnen fehlt, ist der besondere Charakter, etwa eines Craft-Bieres. Sie sind nicht kantig. Und dieses Element fehlt auch einer Produktvision, die von allen Beteiligten erstellt wird und allen „schmeckt“.
Meine Empfehlung ist der zweite Weg: Eine kleine Gruppe um Product Lead oder Product Owner setzt erst einmal Leitplanken. Diese Gruppe sollte maximal drei oder vier Personen umfassen. Sie erarbeiten einen ersten Entwurf der Vision und stellen damit den Korridor auf, in dem diskutiert wird. Hierfür eignet sich beispielsweise eine meiner klassischen Übungen, das Product Vision Interview, mit dem eine erste Fassung der Vision entwickelt werden kann.
Ein gemeinsam geteiltes mentales Modell wie die Produktvision entsteht über Kommunikation.
Das Wichtigste ist aber weiterhin: Ein gemeinsam geteiltes mentales Modell wie die Produktvision entsteht über Kommunikation. Menschen im Unternehmen aus verschiedenen Bereichen haben unterschiedliche Blicke oder Perspektiven auf Kunden, Zielgruppen und Bedürfnisse. Deswegen sollte der Product Owner in einem zweiten Schritt eine größere Gruppe mit allen wichtigen Stakeholdern des Produkts zusammentrommeln, um eine gemeinsame Vision auf Basis des zuvor erstellten Korridors zu entwickeln. Ziel ist es, ein gemeinsames Verständnis zu erzeugen.
Wie sollte so ein Workshop ablaufen?
Hierfür eignet sich beispielsweise das World-Café-Format. Im Fokus des Workshops sollte vor allem die Begriffsklärung stehen. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Was verstehen wir unter „Restaurants“? Was sind die „besten Restaurants“? Und was bedeutet „verbinden“? In Kleingruppen wird dann darüber diskutiert und eine Definition gefunden. Jede Gruppe bekommt eine bestimmte Anzahl an Begriffen, die sie klären. In weiteren Runden werden die Gruppen neu zusammengestellt und es wird erneut über die Begriffe gesprochen. Die Begriffsklärungen und -definitionen werden gesammelt und dokumentiert.
Am Ende sollte möglichst ein Konsens über die Begriffe hergestellt werden, das kann beispielsweise über ein Dot-Voting passieren.
Sollte der Product Owner dieses Format moderieren oder besser als Teilnehmer mitarbeiten?
Das Format braucht in jedem Fall einen guten Moderator. Der Product Owner kann das machen, wenn er das gut kann. Im Idealfall arbeitet der PO aber mit an der Entwicklung der gemeinsamen Produktvision. Er möchte ja, dass bestimmte Dinge drinstehen und ist inhaltlich stark involviert. Das Interesse des Moderators besteht aber nur darin, dass es am Ende eine gemeinsame Vision gibt. Was die inhaltlich ausmacht, ist für ihn zweitrangig. Deswegen empfehle ich immer, einen möglichst neutralen Moderator zu engagieren. Das kann beispielsweise der Scrum Master oder ein Agile Coach sein. Natürlich sollte dieser Moderator auch ein wenig Ahnung davon haben, was eine Produktvision ausmacht, damit er der Gruppe helfen kann, zum Ziel zu kommen.
Kommen wir zum Produktvision-Statement. Dieses fasst das gemeinsam geteilte mentale Modell in einem Satz zusammen. Passiert das auch in der Gruppe? Oder macht das der Product Owner alleine?
Das passiert dann wieder in der kleinen Gruppe, die die Informationen aus dem World Cafe mitnehmen und in einen griffigen Satz verwandeln. Hier sollte der Product Owner die Zügel in die Hand nehmen und in den Lead gehen. Im Zweifel kann der PO das Statement auch allein entwickeln. Er ist schließlich dafür verantwortlich und es dient immer als sein „Erinnerungsanker“.
Welche Tools oder Hilfsmittel empfiehlst du, um ein gutes Produktvision-Statement zu formulieren?
Ich nutze gerne das Positioning Statement von Geoffrey Moore als Hilfsmittel. Das ist quasi eine Schablone, die dich dazu zwingt, die wichtigsten Aspekte mit reinzunehmen: Produktname, wesentliche Features, Zielgruppe, Abgrenzung zum Wettbewerb. Das liest sich in der vorgestellten Form erst einmal nicht besonders sexy, ist aber ein sehr guter Ausgangspunkt. Diese Basis kann man dann nutzen, um das Statement nach und nach besser, kürzer und prägnanter zu machen.
Ein gutes Tool ist auch die Product Box: Wir bauen eine Verpackung für unser Produkt, bemalen und beschriften sie mit den wichtigsten Features und Versprechungen. So kann auf der Vorderseite beispielsweise ein großes Bild vom Produkt als Zeichnung, ein Slogan und/oder wichtige Verkaufsargumente untergebracht werden. Auf der Rückseite haben wir Platz für detaillierte Informationen zum Produkt.
Mit dem Produkt Vision Interview hast du selbst eine Methode entworfen, mit der Teams eine Produktvision entwickeln können. Wie funktioniert das Modell?
Das Product Vision Interview eignet sich gut für den ersten Schritt, also bevor wir in der großen Gruppe zur eigentlichen Vision und dem gemeinsamen Verständnis darüber kommen. Mit dem Format kann eine kleine Gruppe die erste Vorstellung der Vision formulieren, die dann im Workshop mit allen Beteiligten als Grundlage dient.
Das Product Vision Interview hilft besonders bei neuen Produkten bzw. Ideen oder auch bei neuen Feature-Sets bei bestehenden Produkten.
Das Format braucht drei Teilnehmer, die unterschiedliche Rollen einnehmen: Ein Promoter hebt die Dinge am Produkt vor, die er besonders stark findet. Ein Interessierter hört zunächst zu und darf im Anschluss Kritik äußern und nachfragen. Ein Beobachter notiert die Erkenntnisse. Auf Basis der Rückmeldung bekommt der Promoter noch einmal die Möglichkeit, darauf einzugehen und die Vorzüge des Produkts zu promoten. Danach wechseln die Teilnehmer die Rollen. Insgesamt durchlaufen wir drei Runden, so dass jeder einmal jede Rolle einnimmt. So schaut man sich die Idee von allen Seiten an und dokumentiert die wichtigsten Erkenntnisse. Damit können der PO und seine Mitstreiter dann in die weitere Ausarbeitung mit den Stakeholdern gehen.
Wie sieht das bei größeren Organisationen mit einer Produktvision aus? Viele Unternehmen haben nicht „das eine Produkt“.
Produktvisionen können durchaus kaskadieren und von der übergeordneten Unternehmensvision abgeleitet sein. Wichtig: Die Produktvision muss immer auf die größere Vision einzahlen. Eine Produktvision bildet somit einen Teilaspekt ab und kann von der „größeren Vision“ abgeleitet werden.
Man sollte es allerdings nie tiefer runterbrechen als auf Produktteam-Ebene. Dann landet man im operativen Bereich und ist eher auf Zielebene.
An wen sollte die Vision kommuniziert werden?
Eine gute Produktvision muss im gesamten Unternehmen geteilt werden. Es spricht auch nichts dagegen, sie öffentlich zu machen. Sie liefert den Grund, warum wir leidenschaftlich an der gemeinsamen Sache arbeiten und kann so auch Bewerber anlocken.
Das gilt vor allem für das reine Statement. Gewisse Teile der Vision sollten allerdings nicht öffentlich geteilt werden. Ich denke hier z. B. an die Abgrenzung zum Wettbewerb, die Teil der Vision ist.
Ist eine Produktvision in Stein gemeißelt? Oder kann sie geändert werden?
Die Produktvision ist im stetigen Wandel. Wir gewinnen ständig neue Erkenntnisse über Nutzer, Kunden oder die Marktsituation. Das kann dann auch zu einem veränderten geteilten mentalen Modell und damit zu einer geänderten Vision führen.
Aber: das Vision Statement sollte im Wesentlichen gleichbleiben. Es ist in die Zukunft gerichtet und gibt die Richtung vor. Es ist zudem auf einer höheren abstrakten Ebene. Wenn sich die Situation ändert, kann ich meine Strategie, meine Ziele und meine Maßnahmen anpassen. Das übergeordnete Zielbild bleibt aber stabil. Wir behalten etwa die Vision, Menschen mit den besten Restaurants zu verbinden. Vielleicht machen wir das aber nicht mehr mit einer App, sondern mit einem anderen Tool – je nachdem, wie sich die Nutzergewohnheiten ändern.
Eine Anpassung der übergeordneten Vision sollte eher selten stattfinden und muss strategisch gut begründet sein.
Zur Person: Dominique Winter im Porträt
Dominique Winter ist Product Development Coach bei OBI next. Der Medieninformatiker und Organisationsentwickler arbeitet nebenberuflich als Speaker, Trainer und Coach und beschäftigt sich intensiv mit Themen rund um erlebnisorientierte Produktentwicklung, User Experience und agiler Produktentwicklung. Als Teil der Produktwerker veröffentlicht er unter anderem einen wöchentlichen Podcast zu Themen rund um die Verantwortung als Product Owner. Aktuell promoviert er zudem an der Universität Siegen mit einer Dissertation über die UX-Gestaltungskompetenz von Organisationen. Vor seinem Engagement bei OBI next war Winter als Product Owner und Product Manager u. a. für Rewe Digital und Buhl Data Service tätig. Weitere Informationen zu Dominique Winter und seinen Aktivitäten finden Sie auf seiner Webseite.